Die EVERESTING-CHALLENGE – ein genial stupides Abenteuer für Ausdauerfreaks
„Das ist doch ein alter Hut!“ Dies war der erste Kommentar, den ich von meinem Coach Dr. Florian Hanakam erntete, nachdem ich ihm vorsichtig von meinem neuen Vorhaben – der EVERESTING-CHALLENGE – berichtete. Dass mein Trainer von dieser Aktion nicht begeistert sein würde, war mir klar. Doch dass sein Urteil so abwertend ausfiel, verletzte mich. Denn kein geringerer als George Mallory, Enkel des berühmten Bergsteigers George H. L. Mallory (1886 – 1926), der bei einer Expedition mit dem Ziel der Erstbesteigung des Mount Everest verstarb, war der Ideengeber und erster Finisher dieser heute weltweit beliebten Challenge. Der Engländer Mallory war lange am höchsten Berg unseres Planeten verschollen. Seine Leiche wurde erst 1999 geborgen. Sein Enkel wollte auf den Spuren seines Großvaters unterwegs sein und einmal selbst den Everest besteigen. Sein Ausdauer-Training absolvierte er natürlich auch auf dem Rad und so kam es zu der Idee, die 8848 Höhenmeter des Mount Everest in einer Radfahrt zu bewältigen. Dies geschah 1994 am australischen Donna Buang. Doch es brauchte noch ein paar weitere Ausdauer-Verrückte, die diese Challenge in die Welt hinaustrugen. Die Gruppe um den Australier Andy van Bergen und seinem Rad-Club „Hells 500“ griff die Idee Mallorys auf und ließ sich die Marke „EVERESTING“ schützen. Unter www.everesting.cc kann man alle Regeln zur Challenge nachlesen und man findet einen für seine Planungen hilfreichen „Calculator“, der einem errechnet, wie oft ich meinen Hausberg hochfahren muss und auf wie viele Kilometer ich am Ende komme. Die Regeln sind teuflisch einfach, die Challenge brutal hart! EVERESTING ist die weltweit härteste Climbing-Challenge – so sagt es die Website.
Stupide? Ja, es kann eintönig werden, immer den gleichen Anstieg hinauf zu fahren, oben einen U-turn zu machen, wieder herunter zu rollen, um erneut wieder hinauf zu fahren. Wieder und wieder. Für viele ist das unvorstellbar und unattraktiv, so auch scheinbar für meinen Coach, der mich bisher immer gut auf meine üblichen Triathlon-Rennen vorbereitet hat. Aber genau diese mentale Herausforderung, neben den 8848 zu erklimmenden Höhenmetern, reizte mich. Sonst bin ich auch ein Freund von landschaftlich reizvollen Rundtouren mit dem Rennrad, bei denen ich neue Gegenden kennenlernen und die Natur genießen kann. Doch wer sagte einmal: „Training ist kein Sightseeing!“ …ich meine mich daran erinnern zu können, dass diese Worte auch von meinem lieben Coach stammen.
Da Florian mich nach nun 8 Jahren intensiver Zusammenarbeit ganz gut kennt, wusste er, dass dieses Saatkorn in meinem Kopf zu sprießen begann und er nichts mehr dagegen tun konnte. Daher bereitete er mich trainingstechnisch auf mein kleines Abenteuer vor, welches bei gutem Wetter Anfang August stattfinden sollte. Doch dann durchkreuzte die Möglichkeit bei der Langdistanz in Podersdorf zu starten meinen Plan. Zuerst dachte ich, ich könnte die kleine Everest-Challenge in mein Langdistanz-Training einbauen. Doch dafür erhielt ich nicht nur von meinem Coach das „Vogelzeigen“. Okay Verena, einfach mal eine erwachsene Entscheidung treffen und nicht alles auf einmal haben wollen, wie ein kleines Kind, reflektierte ich mich in einem ruhigen Moment selbst. Und diese Entscheidung war ja nun auch von Erfolg gekrönt (siehe Artikel zum Austria-Triathlon Podersdorf). Mein Trainer und ich waren happy – das Trainer-Athleten-Verhältnis wieder auf einer stabilen Basis. Doch kaum war ich nach dem Österreich-Trip zu Hause – mein Körper hatte so gerade das Rennen verdaut – da war wieder dieses Verlangen, der Herausforderung des EVERESTINGs nachzukommen. „Ja, das dachte ich mir schon“, waren die Worte meines Coachs. Ich war überrascht! Plötzlich stand in meinem Trainingsplan für den kommenden Samstag: EVERESTING.
Angst! Pure Angst, aber auch Vorfreude machten sich in meinem Körper breit. Einen Berg hatte ich mir zuvor schon ausgeguckt. Kein leichtes Unterfangen. Viele Aspekte gilt es zu berücksichtigen, wie z.B. der Straßenbelag (möglichst keine Schlaglöcher… da fallen viele Berge schon mal weg), man sollte gut wenden können, die % der Steigung, die Möglichkeit einer Support-Stelle, …und und und. Irgendwann war ich das Suchen leid und ich hatte mich in den Anstieg von Garbeck nach Leveringhausen verliebt. Die Strecke ist landschaftlich reizvoll, bergab muss man so gut wie nie bremsen, am Ende noch zwei schicke Serpentinen, ich mag diese Straße einfach! Das Segment misst ca. 3 km und 171 hm. Die errechneten Wiederholungen belaufen sich auf 52. Dies macht in der Summe etwas über 8848 Höhenmeter auf 313 km. Puhhhh.
Im Training bin ich als Test zur Tauglichkeit des Berges 6 mal hoch und herunter gefahren. Das hat mir an diesem Tag die Schuhe ausgezogen. Nach dieser Radtour war ich so fertig, dass ich mich erstmal hinlegen musste. Diese Erfahrung trug also nicht dazu bei, mir für mein Vorhaben Mut zu machen. Egal.
In der Woche meines EVERESTINGs machte ich mein Vorhaben publik. Ich fragte noch ein radverrücktes Mädel aus der Nachbarstadt, ob sie Lust hätte in irgendeiner Form mitzufahren. „Klar, da hab‘ ich Bock drauf. Was ist dieses Everesting eigentlich…???“ Mega!!! Nele Dönneweg ist mir mit ihren verrückten Aktionen, wie z.B. 24 Stunden auf ZWIFT, aufgefallen und ich schätze es sehr, dass sie so spontan zugesagt hat. Und wo eine Verrückte, da gleich mehrere: Das Netzwerk über Social Media ist gut und so konnte Nele noch ein Mädel zum Everesting motivieren. Nadja Kuhn war ebefalls heiß darauf, sich der ultimativen Challenge zu stellen. Wir waren motiviert bis in die Zehenspitzen! Um die Mädelspower noch weiter zu pushen, hatte sich Beate Görtz aus Köln angekündigt, einige Runden mitzufahren. Die Vorbereitungen liefen, die Verpflegung war gepackt.
Das wird das Härteste, was Du jemals auf dem Rad gemacht hast! Da war ich mir sicher. Ich stellte mich auf einen langen Leidensweg ein. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf den letzten Kilometern meiner Sauerlandumrundung (354 km, 4400 hm, im Mai 2020, siehe Bericht) die Berge hochgekrochen bin. Jede Pedalumdrehung schmerzte und war mühsam. So und noch viel schlimmer stellte ich mir das EVERESTING vor. Und irgendwie freute ich mich darauf.
Der Wecker klingelte am Tag aller Tage um 3:30 Uhr. Dass das Tageslicht zum Jahresende hin deutlich abnimmt, war uns bewusst. Somit mussten wir im Dunkeln starten und würden auch im Dunkeln finishen. Um 5 Uhr ging es los. Die Sterne funkelten am Nachthimmel, in den Tälern war es empfindlich kalt. Zum ersten mal wurde wieder in langer Montour mit warmen Handschuhen gefahren. Den ersten Anstieg fuhren wir alle drei gemeinsam hinauf, das Warmfahren sozusagen. An die Abfahrt mit Stirnlampe in der Dunkelheit musste man sich erst einmal gewöhnen und vor möglichem Wildwechsel gewahr sein. Zum Glück war die Straße trocken und die ersten Wiederholungen verflogen extrem schnell. Ehe ich mich versah hatte ich 4 Stunden Fahrzeit auf dem Wahoo. Es war ein tolles Erlebnis, in den Sonnenaufgang hineinzufahren. Der Tag versprach sonnig und angenehm warm zu werden. Einige Radfahrer und Bekannte machten sich auf den Weg, uns an und auf der Strecke zu unterstützen. Es war richtig was los an dem Anstieg – ein tolles, motivierendes Gefühl! Ich versuchte viel und ständig zu essen, was zu Beginn auch noch gut funktionierte. Dank Uli und später auch Reinhard hatten wir einen super Support. Ich kontrollierte meine Zeit, die ich für den Anstieg benötigte und fuhr bewusst locker. Nele und Nadja hatten ein Zweiterteam gebildet, was sich den Tag über auch nicht mehr trennen sollte. Die beiden pushten sich gegenseitig. Meine zuvor angefertigte Strichliste wurde von Uli gewissenhaft abgehakt. Bei jedem Vorbeifahren an unserem Verpflegungsstand gab es einen Strich. Diese Liste hat mental auch gut geholfen, sich weiterhin zu motivieren. Die Sonne wanderte stetig auf ihrer Laufbahn über den Septemberhimmel und verwöhnte uns mit ausreichend Wärme. Mit der Nachmittagssonne wurde es auch langsam wieder ruhiger auf der Strecke und man fokussierte sich gezwungenermaßen wieder auf sich selbst. „Wann kommt das erste Tief, wann der große Einbruch?“, fragte ich mich. Nach über 11 Stunden Fahrtzeit war noch keine extreme Erschöpfung zu spüren. Das hatte ich anders erwartet. Zwar machte mir die Verpflegung etwas Sorgen, da ich auf nichts mehr Appetit hatte, doch irgend etwas zwang ich mir dennoch hinein. Nach 40 absolvierten Wiederholungen und bereits über 6.800 geschafften Höhenmetern war ich mir ziemlich sicher, dass ich es schaffen würde. Mein gefürchteter Einbruch blieb völlig aus. Mir ging es blendend, ich konnte vom Tempo her noch zulegen, wenn ich wollte. Die letzte Wiederholung fuhr ich im Tempo meiner zweiten Wiederholung. Ich war mega stolz auf mich, dass ich die Challenge so gut gemeistert hatte. Kurz nach Einsetzten der Dunkelheit erreichte ich sozusagen den Summit des Mount Everest ohne Sauerstoffmangel. Und anstelle eines mühevollen Abstiegs erwartete mich eine kalte Dusche aus meinem RinseKit sowie ein ziemlich ekelhaftes FastFood, begleitet von einer Flasche Bier. Während ich schon zusammen mit meinem Sherpa Uli meinen Erfolg feierte, quälten sich die beiden Mädels noch auf der Strecke. Sie hatten noch einiges vor sich. 10 Wiederholungen lagen sie in etwa hinter mir und ich ziehe meinen Hut vor ihrem Durchhaltevermögen. Sie hatten sich spontan dieser großen Challenge gestellt und zogen diese jetzt bis zum bitteren Ende durch. Es war dunkel und es wurde wieder unangenehm kalt. Um 0:15 Uhr erreichten auch sie das Ziel. Ich bin froh, die beiden durch diese Challenge kennengelernt zu haben. Toll, wie so ein Ereignis Menschen verbinden kann. Diesen Tag werden wir nie vergessen. Und jedes mal, wenn ich diesen Anstieg wieder fahren werde, muss ich wahrscheinlich still in mich hineingrinsen, was für ein Stumpfsinn mich glücklich und zufrieden machen kann. Probiert’s selbst!
Vielen Dank an Jörg Riese für die tollen Bilder!
www.jorics.de
Hier meine Aufzeichnung auf STRAVA: