Andalusiens endlose Weiten – Mein erstes Bikepacking-Abenteuer
Seitdem das Rad wieder mal neu erfunden wurde und das Thema Gravelbike keinen mehr loslässt, wuchs in mir und meinem Trainingskumpel der Wunsch, mal selbst [UF1] auf eine Gravelbike-Tour über mehrere Tage zu gehen – mit Gepäcktaschen, wie der obligatorischen Arschrakete und Co. Nur Campen wollten wir bei unserem allerersten Abenteuer noch nicht, wir wollen es ja zum Anfang nicht übertreiben! Vielmehr fragte ich mich, als ehemalige Triathletin mit leichtem Vollcarbonrad, ob mir das Fahren mit dem ganzen Gerödel am Rad überhaupt Spaß machen würde. Ein Hotel mit warmer Dusche und einer anständigen Mahlzeit nach einem anstrengenden Tourtag war da schon das mindeste an Luxus, was wir uns gönnen wollten.
Nach einigem Hin und Her, was unsere Reiseroute betraf, einigten wir uns auf das Reiseziel Andalusien. Über Komoot plante ich eine bestehende Route eines anderen Bikepackers für uns um, sodass unser Etappenziel immer ein Ort mit einer gewissen Infrastruktur war. Mein Trainingskumpel Sascha ist zwar auch im Besitz von mehreren Rädern, jedoch zählt er seit einiger Zeit leider kein Mountainbike mehr zu seinem Fuhrpark. Nun ja, laut Absprache wollten wir ja auch eine Gravelbike-Tour zusammen unternehmen. Doch nach genauerer Sichtung unserer Route entschied ich mich nach einigem Für und Wider, mein Mountainbike zu nehmen. Zum Einen ist die Übersetzung bergtauglicher, zum Anderen fühle ich mich mit einem MTB-Lenker sowie den breiteren Reifen einfach sicherer im Gelände. Sascha war von meinem Entschluss verständlicherweise nicht sehr angetan. Würde ich auf flachen Abschnitten auf Asphalt immer hinterher fahren und er auf mich warten müssen? Doch die Unterschiede erwiesen sich später als weniger relevant, dazu später mehr.
Anfang März flogen Sascha und ich also mit einem Gravelbike, einem Mountainbike, vielen Gepäcktaschen, voller Vorfreude, aber auch einiger Unsicherheit nach Málaga, um von dort zwei Tage später in unser Abenteuer zu starten. Was hatten wir uns da eingebrockt? Circa 1.200 Kilometer und 25.000 Höhenmeter in 10 Etappen. Ich hatte uns vorsichtshalber zwei Back-up-Tage eingeplant, man weiß ja nie. Doch die Summe der zu fahrenden Kilometer, vor allem aber die Höhenmeter, ließ uns doch etwas skeptisch werden. Doch dann sagte ich mir wiederum: „Wir haben an jedem einzelnen Tag ja nichts anderes vor, als Rad zu fahren. Dann machen wir eben immer eine schöne Mittagspause und lassen es locker angehen!“
ETAPPE 1
Gesagt, getan! Mit dieser Einstellung sind wir in Málaga mit dem Etappenziel Granada losgefahren. Einrollen, und das für die ersten satten 90 Kilometer der insgesamt 168 km langen Etappe. Immer entlang der Küste, über Straße, es rollt. Nachdem wir dem Trubel in Málaga entkommen waren, wurde es etwas ruhiger. Unsere Mittagspause machten wir in Almuñécar, bevor es endlich in die Berge ins Landesinnere ging. Noch nicht ahnend, was da noch auf uns zukommen würde, genossen wir unsere Tapas und Bocadillos bei Café con Leche und der obligatorischen Cola in einer der üblichen spanischen Bars. Mit vollem Bauch fanden wir uns nach nur kurzer Zeit in einem der steilsten Anstiege wieder, den ich je gefahren bin. Unsere Kommunikation sank auf ein Minimum, denn wir benötigten jede Luft zum Atmen. Nach kurzen extrem steilen Abschnitten folgten sehr steile Abschnitte, gefolgt von hammersteilen Abschnitten. Steil in allen Facetten, zum Glück meist mit befestigtem Untergrund. Die Blicke, die wir uns zuwarfen, sagten soviel wie: „Wird das jetzt jeden Tag so krass?“ Nachdem wir uns schließlich auf über 1.100 Höhenmeter in nur kurzer Zeit hinaufgestrampelt, teils geschoben hatten, war der Moment da, auf den ich schon hingefiebert hatte! Und er war gigantisch! Ich bog um eine Ecke und da tat es sich plötzlich auf: Das majestätische, schneebedeckte Massiv der Sierra Nevada samt einer gigantischen Weitsicht! Ein Moment für die Ewigkeit. Vor lauter Ergriffenheit, aber auch Erschöpfung, fielen Sascha und ich uns in die Arme. Schön, wenn man so einen Moment mit jemandem teilen kann. Aber viel Zeit für Emotionen hatten wir nicht, denn ein paar Kilometer lagen noch vor uns und unserer ersten Unterkunft, einem ehemaligen Kloster im Zentrum der von den Mauren geprägten Stadt Granada, die auf 750 Metern ü.NN liegt. Ein nun immerwährendes Auf und Ab machte das Vorankommen nicht einfach. Die einst wärmende Nachmittagssonne verlor allmählich an Kraft und wir kramten in unseren uns noch nicht vertrauten Taschen nach wärmenden Klamotten. Kurz vor der Stadt El Padul, in der im Jahre 2005 Überreste eines Mammuts ausgegraben wurden, mussten wir unsere Lampen anknipsen, um von anderen Verkehrsteilnehmern gesehen zu werden. Denn nun kamen wir so langsam in das Ballungsgebiet Granadas. Ein kurzer Fotostopp am Mammut, welches auf dem Marktplatz in Padul steht, haben wir uns dennoch nicht nehmen lassen. Nach 9:50 Stunden reiner Fahrtzeit (168 km und 2.900 hm) erreichten wir ziemlich erschöpft und hungrig unsere Unterkunft in Granada. Beim Gedanken an die bevorstehende zweite Etappe mit noch mehr Höhenmetern als heute ließ es mich schaudern. Noch vor unserem wohlverdienten Abendessen unterbreitete ich Sascha eine Überlegung, die mir plötzlich auf der Seele brannte: „Sollen wir morgen einen Ruhetag einlegen?“ Noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, erkannte ich in Saschas erleichterten Gesichtszügen, dass es ein guter Vorschlag war. So hatten wir auch kein schlechtes Gewissen, das zweite Bier zum Essen zu bestellen.
RUHETAG
Es gibt Schlimmeres, als einen Tag zur freien Verfügung in Granada zu haben. Auch wenn man mit minimalistischem Gepäck unterwegs ist und keine Wahl hat, welche Hose, welches T-Shirt, Schuhe oder sogar Unterhose man anziehen soll, weil man eben von allem nur ein Teil dabei hat. Aber man kommt klar. Nach einem angenehmen Treibenlassen durch die malerischen Gassen standen wir vor der Frage: „Rein in die Alhambra – Ja oder Nein?“ Der Gedanke, was ich alles für die über 40 € Eintritt pro Person würde essen können, bewog mich zu einem klaren „Nein“. Anstelle dessen machte ich Sascha den Vorschlag, uns gemütlich auf unserem Hotelzimmer ein YouTube-Video über die Alhambra anzusehen. Im Hinblick auf die nächste Etappe war das bestimmt die weisere Entscheidung.
ETAPPE 2
Einen Joker (Back-up-Tag) hatten wir nun also schon gezogen. Darüber mussten wir schon etwas schmunzeln. Was würde da noch auf uns zukommen? Die zweite Etappe führte uns schnell heraus aus dem bunten Treiben Granadas. 93 Kilometer und 3.900 Höhenmeter warteten auf uns, bevor wir das kleine Bergdorf Pampaneira, welches auf der Liste der „schönsten Dörfer Spaniens“ zu finden ist, erreichen sollten. Das Höhenprofil versprach ein ständiges Auf und Ab bis auf maximal 2.000 m hinauf. Nun waren wir in der Einsamkeit Andalusiens angekommen. Auf unserer heutigen Route lag kein einziger Ort, was wir bei unserer Verpflegung natürlich berücksichtigen mussten. Wasser konnten wir an einer Quelle auffüllen. Zur Sicherheit gaben wir eine Tablette zur Wasserdesinfektion mit in die Flaschen. Die An- und Abstiege waren zum Teil loses grobes Geröll und Sascha stieß nun mit seinem Setup an seine Grenzen. Während mein MTB (Hardtail mit Federgabel) so einiges in den Abfahrten glatt bügelt, muss Sascha es etwas behutsamer angehen. Aber die Lücke war zum Glück nie so groß, als dass ich mich gelangweilt hätte. Die Ausblicke und Eindrücke waren gigantisch! Wir schlängelten uns an der südlichen Grenze des Nationalparks Sierra Nevada entlang und wurden nach einem kleinen windigen Regenschauer mit einem wunderschönen Regenbogen belohnt. Kurz vor unserem Etappenziel, als die Straße, die nach Pampaneira führte, schon in Sicht war, bogen wir noch einmal auf einen unfahrbaren Singletrail ab, der auch noch zwei freilaufende Boxer sowie zwei verschlossene, hohe Tore für uns bereit hielt. Nach einem Angstmoment und zwei Klettereinlagen samt Räder hinüber wuchten hatten wir es dann geschafft. Die Aussicht auf etwas Warmes zu Essen machte uns die Hotelbesitzerin jedoch zunichte. Doch zum Glück fanden wir noch ein Restaurant im Ort und der Abend war gerettet. Mit 8:24 Stunden reiner Fahrtzeit lagen wir wieder deutlich über unserer zuvor geschätzten Zeit.
ETAPPE 3
Nach einem guten Frühstück in der Unterkunft ging es gleich in den ersten Anstieg, zuerst über Asphalt, später über gut zu fahrenden Gravel. Nach bereits 40 km ist es Zeit für Bocadillos, Café und Cola. Denn auf der restlichen Route des heutigen Tages (insgesamt 123 km, 2.800 Hm) dürfen wir uns wieder an der Einsamkeit der Gegend erfreuen. Und diese Einsamkeit bezahlen wir mit Hunger. Doch die Schönheit und Vielfalt der Natur lässt uns unsere Grundbedürfnisse vergessen. Der Himmel ist tiefblau, die Sonne wärmt uns auch auf 2.000 m Höhe und lässt unsere Herzen vor Freude springen! Heute sind wir im Bikepackerhimmel! Keine Schiebe- oder Tragepassagen, keine übermäßig steilen Biester, nur das zarte Knistern von feinstem Schotter unter unseren Reifen. Wir könnten vor Freude weinen. Am letzten Anstieg hoch zur Passhöhe Puerto de la Ragua (2.000 m) machte sich eine wohlige Erschöpfung gemischt mit Glückseligkeit in mir breit. Durch die gut bewaldete Gegend folgte eine circa 1.000 Höhenmeter lange Asphaltabfahrt hinunter nach La Calahorra in die weite Ebene am nördlichen Rand der Sierra Nevada. In der Abendsonne machten wir Halt an einem Aussichtspunkt mit einer atemberaubenden Aussicht, die wir ganz für uns alleine hatten. Wir konnten unser Glück nicht fassen. Zugegeben, etwas steif gefroren vor Kälte, rollten wir in den markanten Ort voller blühender Mandelbäume, in dem das Castillo de La Calahorra ca. 60 m oberhalb des Ortes auf einem Hügel thront. Ein perfekter Tag mit überschaubaren 7:10 Stunden Fahrtzeit.
ETAPPE 4
Für den heutigen Tag mussten wir etwas umplanen, da in unserem eigentlichen Zielort alle Unterkünfte belegt waren. So entschieden wir uns für eine etwas verkürzte Etappe mit dem Ziel in Baza. Ein entspannter Tag mit nur 72 km und 1.200 Hm würde uns sicher gut tun. Zur Bestellung unseres Frühstücks können wir nun schon unseren Standard-Spruch in unserem rudimentären Spanisch auswendig. Zumindest werden wir verstanden. Das Bild beim Frühstück ähnelt sich meist: Vier bis fünf Spanier sitzen an der Theke bei Café und einem alkoholischen Wachmacher. Nach einer Weile kommt auch der örtliche Losverkäufer hinein und gesellt sich Lose verkaufend zu seinen Bekannten. Auf dem Dorf kennt man sich. Die Lautstärke ähnelt eher der auf einem Güterbahnhof, doch uns gefällt es, es gehört zum Ambiente. Wir passen nicht so wirklich ins Bild. Oft scheinen wir die einzigen Gäste zu sein. Auch wenn wir uns nur selten auf Englisch verständigen können, klappt die Kommunikation gut. Was zum Teil auch daran liegt, dass ich einfach immer fröhlich zustimme, wenn mir ein Vorschlag auf Spanisch zum Essen unterbreitet wird. Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber kein Problem, ich mag alles! Das heutige Höhenprofil ist überschaubar. Wir müssen nur einmal über den Gebirgszug der Sierra de Baza. Die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada liegen nun hinter uns. Oft drehe ich mich noch um, um diesen sagenhaften Blick in mich aufzusaugen, aus Angst ich würde den Anblick irgendwann vergessen. In diesem Jahr ist wenig Schnee gefallen. Vor einem Jahr war ich im Mai in Granada und zu dem Zeitpunkt lag sogar noch mehr Schnee auf den Gipfeln, als jetzt Anfang März, obwohl es in der Stadt im Wonnemonat tagsüber schon bis zu 40 Grad heiß wurde. Überhaupt scheint es sehr wenig Niederschlag gegeben zu haben. Die Talsperren sind kaum gefüllt. Wir freuen uns erst einmal über das trockene sonnige Wetter und radeln fröhlich zum nächsten Etappenort in ein Café, um das Treiben auf den Straßen zu genießen und unsere Speicher aufzufüllen. Bis zum Abendessen müssen wir noch etwas Zeit überbrücken. Fast alle Restaurants öffnen erst wieder um 20 Uhr. Das ist hier so üblich. Das Essen schmeckt wieder fantastisch und wir schwelgen schon in den Erinnerungen unserer ersten drei Etappen, sodass wir gar nicht merken, wie uns das Bier unsere Sinne leicht benebelt. Das Leben ist schön.
ETAPPE 5
Seit Beginn unserer Tour habe ich ein leichtes Knacken im Pedal oder im Tretlager. Bisher trat es nur auf, wenn ich im Wiegetritt gefahren bin. Der Versuch, das Problem zu orten, blieb bislang erfolglos. Doch scheinbar wird das Knacken immer schlimmer. Ich mache mir Sorgen, fahre aber erstmal weiter. Die heutige Etappe ist aufgrund der kürzeren Fahrt gestern mit 132 km und 2.600 Höhenmetern wieder etwas länger. Wieder haben wir direkt zu Beginn schon sagenhafte Aussichten. Der Morgennebel hängt im Tal, die Frühlingssonne steigt am Horizont empor. Wir fahren durch riesige Olivenbaum-Plantagen. Das Silbergrau der Blätter glitzert in der Sonne. Nach einem kurzen knackigen Anstieg haben wir eine super Aussicht auf den türkisblauen Stausee Embalse del Negratín. Nach etwas über 30 Kilometern passieren wir unseren eigentlich für gestern geplanten Etappenort Benamaurel. Von dort geht es erst einmal lange über eine wenig befahrene Asphaltstraße stetig bergauf. Wir finden einen Ort mit einer geöffneten Bar und bestellen das Übliche. Ich freue mich schon darauf, bald wieder Schotter unter meinen Stollenreifen zu haben. Unsere Stimmung ist weiterhin bombastisch, unsere Beine zeigen keine nennenswerten Anzeichen an Erschöpfung. Gut, dass ich wenigstens ein Problem an meinem Tretlager habe, sonst wäre alles zu 100% perfekt und das wäre ja unnormal. Bald finden wir uns auf feinstem Schotter wieder, gefolgt von steileren gröberen Abschnitten. Doch das sind wir ja nun gewohnt. Wir folgen einem Bachlauf und müssen diesen auch zweimal durchqueren. Ich steige mit dem Wissen um mein minderes Fahrvermögens besser ab. Das war auch gut so, denn das betonierte Flussbett ist glatt wie Schmierseife. Selbst der Versuch mein Rad durchzuschieben endet mit einem harmlosen Sturz und zwei triefend nassen Füßen, was mir die Entscheidung bei der nächsten Bachdurchquerung einfacher macht: Ich latsche einfach durch. Mehr als nass geht nicht. Ein nicht enden wollender Anstieg durch dichten Wald forderte uns nochmal einiges ab. Doch was uns oben erwartete, war wieder einmal nicht in Worte zu fassen. Eine einsame, wunderschöne Hochebene, die „Campos de Hernán Perea“, auf ca. 1.600 m, verzauberte uns und wir fühlten uns wie echte Entdecker. Sie ist die Umfangreichste Spaniens und erinnerte mich mit ihrer Karstlandschaft teilweise an Lanzarote. In der Nachmittagssonne fuhren wir in vertrauter Zweisamkeit, jeder für sich still genießend, durch ein paar Ziegenherden unserem Etappenziel Ponton Bajo entgegen. Nach 7:50 Stunden Fahrtzeit würde auch das Abendessen wieder gut schmecken.
ETAPPE 6
Allmählich waren wir im Flow! Wir hatten Vertrauen in unsere Route erlangt, die Wege schienen immer besser fahrbar zu sein und wir freuten uns auf das was da noch kommt. Doch jedes Bikepacking-Abenteuer braucht auch scheinbar jene Tage, an denen es mal nicht läuft. Und so ein Tag war heute. Schon ziemlich zu Beginn fanden wir uns auf einem Wanderweg wieder, unsere Räder bergab schiebend in eine nicht enden wollende Schlucht. Über mehrere Kilometer mühten wir uns ab, in der Hoffnung auf wieder fahrbare Untergründe. Auch heute würden wir an keinem Ort vorbei kommen. Beim kleinen Bäcker in Ponton Bajo deckte ich mich mit Schokobrot für den Tag ein. Sascha meinte, er komme schon so klar, nun gut. Auf circa der Hälfte unserer heutigen Tour würden wir den Scheitelpunkt unserer gesamten Route erreichen, weit im Nord-Osten Andalusiens, der von Lärchenkiefern, Aleppokiefern, Schwarzfichten und vielen endemischen Arten geprägt ist. Doch ein immer wieder kehrender Platten an Saschas Vorderrad machte unser Weiterkommen mühsam und wir verloren wertvolle Zeit im Kampf um das Tageslicht. Nachdem wir weitere Dichtmilch aufgefüllt hatten, war das Problem schließlich behoben. Doch die Wege wurden nicht besser. Steile Trails, grober felsiger Untergrund; unser Schnitt ließ uns schon ahnen, dass wir in die Dunkelheit kämen. Unser Versuch, einen schnellen Café zu trinken, verlief ins Leere, da in Segura de la Sierra keine geöffnete Bar auszumachen war. Für die imposante Burg auf dem Gipfel des Ortes hatten wir nur noch einen flüchtigen Blick übrig. „Bikepacking ist auch ein Sozialprojekt in Bezug auf das Miteinander zweier Menschen“, erklärte ich Sascha vielsagend zu Beginn unserer Tour. Nun war zum ersten Mal der Zeitpunkt gekommen, der uns als Team auf die Probe stellte. Sascha war mittlerweile deutlich missgestimmter bezüglich der unfahrbaren Trails als ich es war. Verständlich, wenn man den Unterschied Gravelbike/Mountainbike berücksichtigt. Er wollte ab jetzt einfach über Straße weiterfahren, um diesem ständigen „Hike-your-Bike“ zu entgehen. Ich wollte „keine Rennradtour“ machen und brachte das auch lautstark zum Ausdruck. Nach einem kurzen Abweichen über glatten Asphalt einigten wir uns wieder darauf, auf unsere geplante Route zurückzukehren. Am nächsten langen Anstieg in der untergehenden Sonne redeten wir nicht viel, doch ich wusste, wenn Sascha auf einem Rad sitzt und pedaliert, kann er nicht böse sein. Wir genossen den Sonnenuntergang und die wunderschönen Ausblicke auf die Meere von Olivenbäumen soweit wir gucken konnten. Der Himmel zauberte die schönsten Farben an den Horizont, die man sich denken kann. Doch als wir endlich am Scheitelpunkt waren, war es komplett dunkel. Wir brachten unsere Lichter in Position und begaben uns in die Abfahrt, die – wie sollte es anders sein – ein Singletrail war, den wir im Leuchtkegel unserer Lampen hinunter schoben. Die noch eben sinnliche Stimmung war dahin. Dass Sascha keine Lust mehr hatte, merkte ich an seinem immer langsamer werdenden Tempo. Immer wieder verlor ich sein Licht in der Dunkelheit und hoffte, dass er bald nachkommen würde. Nur das Leuchten fremder Augen wilder Tiere in der Nacht zeugte von anderem Leben in der Gegend. Irgendwann dann Lichter, Häuser, bellende Hunde. Ein kleines Dorf. Bald müssten wir zur Straße gelangen, die auch ich mittlerweile mehr als je herbeisehnte. Doch zuerst mussten wir an all den freilaufenden Hunden im Dorf vorbei. Keine leichte Aufgabe mit einem dünnen Nervengestell. Als wir auf den menschenleeren kleinen Marktplatz in Hornos einrollten, unserem Etappenziel, erschrak ich, als ich die Uhrzeit sah. Mittlerweile war es 21:20 Uhr. 110 Kilometer mit 3.200 Hm standen zu Buche. Unsere reine Fahrtzeit betrug 9:06 Std. Doch wir verbrachten ungefähr 3 weitere Stunden mit Schieben und Tragen. Nun hofften wir inständig, noch in unsere gebuchte Unterkunft zu kommen, denn der Check-In war offiziell nur bis 18 Uhr vorgesehen. Aber scheinbar haben wir einen Lauf und wir hatten Glück. Denn unsere Vermieterin sowie eine Nachbarin versorgten uns noch mit ein paar Lebensmitteln, da in dem kleinen Ort kein Restaurant mehr geöffnet hatte. Nach so einem langen Tag war das unsere Rettung. Doch ich hatte noch ein ganz anderes Problem, von dem ich Sascha noch in Kenntnis setzte. Meine Vorderbremse verlor Bremsflüssigkeit und hatte schon deutlich an Bremskraft eingebüßt. So konnte ich unmöglich in diesem Terrain weiterfahren. Wir mussten einen Bikeshop finden.
ZUM BIKESHOP
Der gestrige Tag hatte uns etwas zugesetzt. Das zuvor erlangte Vertrauen in unsere Route war erstmal dahin. Wir hatten vor der nächsten Etappe deutlich Respekt. So kamen meine mechanischen Probleme am Bike vielleicht ganz recht. Wir entschieden uns, über die Straße zum nächsten Bikeshop zu fahren, der ca. 27 Kilometer entfernt in Puente de la Génave lag. Der Shop war eine Art „All-in-One“, der eher einem Baumarkt als einem Fahrradladen glich. Doch beim Erstkontakt mit dem Inhaber war klar, der Junge hat Ahnung. Man konnte sofort erkennen, dass er selbst ein passionierter Radfahrer war. Die Art und Weise seiner prüfenden Hände an meinem Bike machten es mir leicht, das selbige dort zu lassen und entspannt etwas Essen zu gehen. Nach 1 ½ Stunden durfte ich ein funktionsfähiges, wieder mit voller Bremskraft ausgestattetes, nicht mehr knarrzendes Rad entgegennehmen und war überglücklich! Nun durfte kommen was wolle. Wir fuhren entspannt in den nächsten größeren Ort und checkten in ein Hotel ein. Unser zweiter Back-up-Tag war somit auch aufgebraucht. Nun durfte nichts mehr schief gehen.
ETAPPE 7
Von Villanueva del Arzobispo stiegen wir über das Bergdorf Cazorla wieder quer auf unsere eigentliche 7. Etappe ein. Somit haben wir unsere heutige Tour etwas entschärft. Cazorla war auch der geeignete Ort für einen Café und eine kleine erste Stärkung. Das bunte Treiben im Zentrum der 7.000-Einwohner-Stadt war eine nette Abwechselung zur Ruhe, die außerhalb herrscht. Nach nur wenigen Kilometern waren wir wieder unter uns, bzw. inmitten einer Schafherde, die am ersten steilen Anstieg genüsslich graste und uns blökend begrüßte. Auf unserer Tour gab es bisher keinen einzigen Anstieg, der nicht am Ende mit einer grandiosen Aussicht belohnt wurde – so auch diesmal. Nun hatten wir wieder die schneebedeckten Gipfel, die weit über 3.000 m erreichen und das Höchste der Iberischen Halbinsel sind, im Blick und konnten uns noch immer nicht daran satt sehen. An einer matschigen Stelle, an der ein kleiner Bachlauf zu durchqueren war, entschied ich mich lieber, mein Bike zu schieben. Doch mit jedem Schritt den ich tat, addierte sich die Summe des Schlamms unter meinen Sohlen um ein Vielfaches. Nach ein paar Schritten hatte ich die Größe eines amerikanischen Profi-Basketballers erreicht – auch mein Bike hatte durch den Schlamm zwei Kilogramm zugelegt. Ich möchte nicht in dieser Gegend bei Niederschlag unterwegs sein. Dieser Schlamm eignet sich hervorragend als Baumaterial. Jedoch ihn wieder von den Schuhen zu lösen, erforderte einen kleinen Aufwand. Unseren Etappenort Pozo Alcón erreichten wir nach einer Rennrad tauglichen schönen Serpentinen-Abfahrt nach 87 km (2.150 hm) und 5:32 Stunden Fahrtzeit. Ich war schon ganz aufgeregt vor dem morgigen Tag. Endlich ging es in die Gorafe-Wüste – auch bekannt als die „Badlands“.
ETAPPE 8
Von Pozo Alcón fuhren wir erst einmal einige Zeit über eine Straße bergab bis wir an den uns schon bekannten Stausee „Negratín“ kamen, der auch aus dieser Perspektive beeindruckte und einen türkisen Farbtupfer in die Landschaft zauberte. Der nächste Anstieg machte uns deutlich, wie gut es doch auf Asphalt rollte, obwohl es bergan ging. Eine scheinbar endlose Gerade durch das Grün der Olivenbäume und die blühenden Mandelbäume ließ noch nicht erahnen, dass sich die Landschaft bald wieder drastisch ändern würde. Endlich bogen wir rechts in eine Schotterstraße ein, wieder mit dem grandiosen Fernblick auf die höchsten Gipfel. Und bald waren wir da. Am Eingang des Gorafe-Nationalparks. Mittlerweile waren unsere Wasservorräte fast aufgebraucht und wie entschieden, uns „mal eben“ im Ort Gorafe zu verpflegen. Nicht ahnend, dass der Ort ca. 250 Höhenmeter weiter unten lag. Doch wenn wir unsere weitere Tour genießen wollten, kamen wir nicht drum herum. Der Ort erinnerte an eine Stadt im Wilden Westen vor 100 Jahren. Nicht nur, weil vor dem Rathaus ein besatteltes Maultier angebunden war. Eine tolle Atmosphäre. Wir freuten uns, dass dieser spezielle Ort auch gleichzeitig unseren Etappenort darstellte und wir in einer ganz besonderen Behausung übernachten würden. Doch zuerst ging es auf eine ca. 25 km lange Genussrunde durch den Nationalpark der Wüste Gorafe. Der Genuss ließ aber erst einmal auf sich warten. Mit einem zu vollen Bauch, vollgestopft mit zu viel Süßem, fiel mir der steile Anstieg hinaus aus dem Ort verdammt schwer. Aber die bald folgenden Ausblicke auf die einzigartig zerklüftete Landschaft mit in der Sonne leuchtendem roten Gestein, ließ mich meinen Cola-Bauch vergessen. Frei wie ein Adler schwebten wir den Weg in den Canyon hinab und genossen jeden Blick in die Schönheit der Natur. Am tiefsten Punkt angekommen, freuten wir uns über unser frisch aufgefülltes Proviant. Denn das Thermometer zeigte 30 Grad. Nun begaben wir uns in den Anstieg zurück nach Gorafe. Bei dem nun sehr geringen Tempo konnten wir die Ausblicke noch besser genießen. Das nächste Highlight war das Beziehen unserer Unterkunft. Eine der zahlreichen Höhlenwohnungen war unser Zuhause für eine Nacht. Die mit 4 Schlafzimmern, 2 Badezimmern, Küche, Wohnraum sowie Wintergarten ausgestattete Höhle war etwas überdimensioniert für unsere Bedürfnisse, aber wir fühlten uns sehr wohl, obwohl wir uns mehrfach den Kopf stießen. Auch dass die Innenräume keine Fenster hatten, war nicht unangenehm. Das Klima in der Höhle war perfekt und in den heißen Sommern sicherlich angenehm temperiert. Gorafe war definitiv ein Highlight dieser Tour.
ETAPPE 9
Wir verabschieden uns von der Gorafe-Wüste und fahren in südwestliche Richtung, dem Bergmassiv der High Sierra entgegen, welches wir heute sogar hinter uns lassen müssen, was bei dem Anblick in der Ferne noch etwas unrealistisch scheinen mag. Doch mit 153 km (2.590 Hm) müssen wir heute Kilometer machen und das Ballungsgebiet Granada durchqueren, um den Ort Alhama de Granada zu erreichen. Doch immer wieder muss Sascha anhalten und seinen Hinterreifen aufpumpen, da er deutlich an Luft verliert. Ein großes Loch können wir nicht ausmachen und fühlen uns etwas hilflos. Wir entscheiden, dass Sascha nun auf der Straße bleibt und wir uns an einem Bikeshop in Granada (Dr. Bike, der Einzige, der tagsüber durchgehend geöffnet hat) wieder treffen. Unsere Verabschiedung halten wir kurz und ich finde mich kurzum ganz auf mich alleingestellt auf einem stetig ansteigenden Schotterweg wieder, von dem ich Sascha aus der Ferne noch hinab in den Ort La Peza fahren sehe. Hoffentlich geht das gut. Doch mein Weg erweist sich als ein Gravel-Paradies. Ein breiter Schotterweg führt mich bis auf 1.500 m Höhe. Nur ein paar Gämse treffe ich unterwegs, bevor ich wieder Asphalt unter meinen Reifen habe. Nun befinde ich mich in vertrautem Gebiet und ich erkenne die Passhöhe „Los Blancares 1.297 m“ wieder, die ich ein Jahr zuvor mit dem Roadbike befahren haben. Jetzt war Granada in greifbarer Nähe und ich war gespannt, wie unser Tag weiter verlaufen würde. Mit Hilfe von Google erreichte ich schließlich den Bikeshop, und ich sah Sascha in einem Café davor sitzen. „Was machst Du denn schon hier?“ Die Überraschung war ihm anzusehen, denn er war nur kurz vor mir dort eingetroffen. Doch sein Rad war schon in den Händen einer attraktiven weiblichen Mechanikerin und nach einem großen Bocadillo für jeden von uns war sein Rad wieder fahrtauglich und an meinem Mountainbike die hinteren Bremsbeläge ausgetauscht, die erstaunlicherweise schon heruntergefahren waren. Weiter ging es. Die Landschaft änderte sich wieder enorm und bald waren wir umgeben von saftig grünen Wiesen, die uns eher an Irland erinnerten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wir heute morgen in einer Wüste losgefahren sind. Wieder standen wir im Wettstreit mit dem Tageslicht. Der letzte längere Anstieg verlief zwar über Asphalt, doch meine Kräfte für den Tag neigten sich dem Ende entgegen und ich lief auf Autopilot. Solange ich eine Radlänge vor Sascha war, genoss ich meine Erschöpfung, denn auch er hatte zu kämpfen. Diesmal haben wir den Wettstreit gewonnen und waren vor Einbruch der Dunkelheit, nach 8:07 Stunden Fahrtzeit, an unserer Unterkunft. Nach der wohlverdienten heißen Dusche entdeckten wir eine gemütliche Tapasbar, die bereits gut gefüllt war, aber noch – wie für uns gemacht – zwei Sitzplätze bereithielt. Da sich unser Abenteuer ja nun langsam dem Ende entgegen neigte, waren wir nicht abgeneigt, uns die Getränke und natürlich auch das leckere Essen schmecken zu lassen. Das Ambiente lud einfach dazu ein, das Leben in vollen Zügen zu genießen.
ETAPPE 10 – Epilog
Dass es gestern vielleicht doch ein Bierchen zu viel war, merkten wir erst nach unserem ausgiebigen Frühstück in einer Bar, lange nachdem wir unsere Unterkunft verlassen hatten. Als wir endgültig Richtung Málaga aufbrechen wollten, stand Sascha rätselnd vor seinem Rad: „Sag mal, wo ist denn meine Arschrakete?“ Tatsächlich, seine große Tasche, die hinterm Sattel befestigt wird, war nicht da. Auch mir war das bislang nicht aufgefallen, obwohl ich länger hinter Sascha hergefahren bin, auf dem Weg zum Frühstück. Die Tasche lag also noch irgendwo in unserer bereits verschlossenen Unterkunft. Nachdem auch dieses kleine Missgeschick geregelt war, ging es nun leider zurück nach Málaga, dort, wo vor 12 Tagen alles begann. Die Topografie hatte es nochmal in sich, obwohl es ja eigentlich bergab ging bis ans Meer. Zwischen dem Mittelmeer und den Ausläufern des Küstengebirges wachsen an steilen Hängen Avocados im großen Stil. Es ist das größte Anbaugebiet Europas. Die zwischen den satt grünen Bäumen verlaufenen Wege sind so steil, dass wir teilweise schieben müssen. Immer wieder verliere ich Sascha, da auch hier seine Übersetzung früher an die Grenze des Tretbaren kommt. Doch wir finden immer wieder zueinander, auch wenn wir uns einmal für etwas länger aus den Augen verlieren. Noch einmal setzen wir uns an einem Aussichtspunkt mit Blick auf das Meer ins Gras und genießen den Blick – wohlwissend, dass es die letzte Aussicht sein wird. Nach einer langen Abfahrt hat uns die Hektik der Großstadt wieder. Wie angenehm ruhig es die vergangenen Tage um uns herum war, merken wir erst wieder inmitten des Verkehrs und der vielen Menschen. Nach 82 km und 1.600 Hm können wir nach 5:05 Std. Fahrtzeit unser alkoholfreies Bier in einer Bar am Strand von Málaga genießen. Doch beide sind wir zugleich wehmütig, dass alles Gute auch ein Ende finden muss. Wir hatten eine verdammt gute Zeit.
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